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Inhalt

Teil I: Der Enkel
Großvaters Tod
Die Kiste

Teil II: Wiesbaden
Erstes Zusammentreffen mit Wiesbadener Nationalsozialisten
Theo Falke und Walter Rabe
Erstes politisches Engagement
Das “Engler-Dossier”
Die Veranstaltung im “Paulinenschlößchen”
Die Stadtverordnetenwahlen
Die Fahrt nach Nastätten
Nastätten und die Folgen
Triumph
Das erste Jahr im Stadtparlament
Schwierigkeiten
Renate
Der Ärger mit der Besatzungsbehörde
Auf Konfrontationskurs
Nationalsozialistische Kulturpolitik
Zuwachs
Die Krise
Verbote
Sonntagsspaziergänge
Der Abzug der Besatzungstruppen
Die “Rheinwacht”
Wahlen
Das Jahr 1931
Das Uniformverbot
Die “Boxheimer Dokumente”
Der “Generalmobilmachungsplan” des Jahres 1932
Land- und Reichtagswahlen 1932
Führungswechsel
Die Entscheidung

Teil III: Belgien
Einleben
Der deutsche Einmarsch in Belgien
Kollaborateure
Ein Abschied
Bruno
Im Widerstand
Rue des Atrébates
Das Verhör
Breendonk
Kriegsende

Teil IV: Die Heimkehr
Reste
Grete
Das Ende

Teil V: Epilog
Vorstellungen

Zeittafel

 

 
 

17. Kapitel: Nationalsozialistische Kulturpolitik

Um ihr Anliegen öffentlich zu machen, begnügten sich die Nationalsozialisten nicht mit politischen Umzügen, mit der Verteilung von Flugblättern, mit der Vorführung von Filmen und Bildern sowie mit der Publikation mehr oder weniger niveauvoller Zeitschriften, sondern bemühten ein weiteres Medium, um sich bei den Bürgern Wiesbadens beliebt zu machen: das Theater. Gegen Ende Februar 1929 fand daher im „Paulinenschlößchen“ die Aufführung des Dramas „Der Mischling“ durch die „Nationalsozialistische Versuchsbühne Berlin“ statt.
Da Raabe keinen besonderen Hang zum Theater hatte, oblag es mir, dem Philologen, der aufschluß- und geistreichen Aufführung beizuwohnen.
„Du kennst dich doch mit sowas aus,“ hatte Raabe gesagt, als er mir das Programmheft in die Hand drückte. „Kannst am Ende noch was lernen.“ -
„Ja, ganz bestimmt,“ antwortete ich. „Vielleicht zu dem Thema: „Das nationalsozialistische Drama - inhaltsarm und geistlos“.“
Von dem begnadeten Autor, einem gewissen Herrn Busch, hatte ich noch nie gehört. Und sein Drama interessierte mich, wenn ich ehrlich sein sollte, überhaupt nicht. Aber was sein muß, muß sein.. Deshalb begab ich mich am Abend der Aufführung ins „Paulinenschlößchen“.
Das Werk des Herrn Busch - ebenso wie die Darbietung desselben - entsprach erwartungsgemäß überhaupt nicht meinen Aufführungs-Idealen. Es troff vor billigem Rassismus und Biologismus.
Am liebsten wäre ich bereits nach den ersten fünf Minuten gegangen. Allein die Tatsache, daß ich die begeisterten Zuschauer, die mit mir in der Reihe saßen, hätte stören müssen, um den Saal zu verlassen, hielt mich davon ab, meinen Wunsch in die Realität umzusetzen: man konnte nie wissen, wie die Herrschaften reagieren würden. Womöglich ungehalten. Und das konnte zu unangenehmen Schlägen in die Magengrube führen, wie ich nur zu gut wußte. Also beschloß ich, bis zur Pause, die es hoffentlich geben würde, auf meinem Sitz zu verharren und ein Schläfchen zu machen.
Während nur wenige Meter von mir entfernt versucht wurde, noch dem letzten ungebildeten Geschöpf in Wiesbaden die „nationalsozialistische Idee“ durch seine dramatische Darstellung näherzubringen - denn das „Mischlings“-Drama sollte keineswegs als Vergnügungsveranstaltung verstanden werden - schlummerte ich selig in meinem Sitz. Pünktlich zu Beginn der Pause, in der die begeistert applaudierenden Zuschauer mit vor Aufregung geröteten Gesichtern in den Vorraum des Schlößchen stürzten, um ein erfrischendes Getränk zu sich zu nehmen, erwachte ich und machte mich eilig von dannen. Ich hatte genug nationalsozialistische Kultur genossen.
Wie ich später von Rudi Schubert erfuhr, zog die Aufführung noch einigen Ärger für die NSDAP nach sich, denn die Nationalsozialisten hatten es versäumt, die Veranstaltung ordnungsgemäß bei der Vergnügungssteuerstelle der Stadtverwaltung anzumelden. Die übersandte der Partei daraufhin einen Steuernachbescheid, den Falke mit folgender Argumentation gegenüber dem Magistrat abzuschmettern gedachte: die Aufführung, so behauptete er, sei eine Bildungs-, aber keine Vergnügungsveranstaltung gewesen. Die geforderten Steuern fielen somit überhaupt nicht an. Das Hin und Her wegen der fälligen Vergnügungssteuer verärgerte die Mitglieder des Wiesbadener Magistrates. Um ähnlichen Konflikten vorzubeugen, faßte die Stadtregierung mit den Stimmen der Sozialdemokraten, der Demokraten sowie der Wirtschafts- und der Volkspartei den Entschluß, den Nationalsozialisten das „Paulinenschlößchen“ außerhalb der Wahlkampfzeit nicht mehr zur Verfügung zu stellen.
Gelegentlich aber stand die NSDAP mit ihrer Kritik am Wiesbadener Kulturleben nicht allein. Auch andere Parteien, darunter die DNVP und das Zentrum, sowie einige christliche Organisationen, wie der „Evangelischen Bund“ und der „Christlichen Verein Junger Männer“, vertraten die Auffassung, daß die Darbietungen des Wiesbadener Staatstheaters unter der Leitung Bekkers inakzeptabel seien. Viel zu modern, und viel zu wenig traditionell. Insbesondere das Brecht’sche Drama „Trommeln in der Nacht“, das im ersten Halbjahr 1929 auf dem Spielplan des Wiesbadener Theaters stand, und das Theo Falke in seinem „Nassauer Beobachter“ als „ekelerregendes Schmutzstück“ bezeichnete, stieß auf allgemeine Ablehnung. Bekkers Kritiker fürchteten um das Renommée des Hauses und hielten es für denkbar, daß die dringend erwarteten Gäste, die eigens aufgrund der wiederbelebten Maifestspiele - die eine zeitlang aus wirtschaftlichen Gründen ausgefallen waren - Wiesbaden besuchen wollten, von den ungewöhnlichen Aufführungen abgeschreckt würden und fortan auf ewig fern blieben. Bekker geriet unter politischen Druck und konnte sich selbigem nur leidlich entziehen, indem er versicherte, anläßlich der Maifestspiele nun doch nicht - wie ursprünglich geplant - allein das von seiner Theaterphilosophie geprägte Wiesbadener Ensemble auftreten zu lassen, sondern außerdem auswärtige Künstler zu Gastspielen einzuladen, um die Festspiele für einen breites Zuschauerspektrum attraktiv zu halten.
Bekkers Freund und Kapellmeister Rosenstock war nicht länger bereit, sich mit den altbackenen Wiesbadener Kulturwünschen und den politischen wie rassistischen Attacken der Nationalsozialisten zu arrangieren. Noch im gleichen Jahr löste er seinen Vertrag mit dem Wiesbadener Staatstheater auf und ging an die New Yorker „Met“.
Gegen Ende des Monats November versuchten die Nationalsozialisten, eine Veranstaltung der „Literarischen Gesellschaft“ zu stören. Die „Literarische Gesellschaft“ hatte Kurt Tucholsky, einen kritischen Beobachter der politischen Landschaft in Deutschland, zu einer Lesung mit anschließender Diskussion gebeten. Unmittelbar zu Beginn der Veranstaltung - der ein guter Bekannter von mir aus Studienzeiten, ein begeisterter Philologe und selbst Mitglied der „Literarischen Gesellschaft“, beiwohnte - versuchten einige Mitglieder der NSDAP, den Veranstaltungsraum zu stürmen. Doch konnte die herbeigerufene Polizei das Eindringen der Nationalsozialisten in den Saal verhindern. Unvermeidbar war es jedoch, daß der Tumult sich auf der Straße fortsetzte. Ein Opfer der nationalsozialistischen Tucholsky-Gegner wurde der Arzt und Goetheforscher Ludwig Meyer, der sich - ein wenig verspätet - mit seinem von einem livrierten Diener chauffierten Wagen vor den Zugang zum Veranstaltungsgebäude bringen ließ. Während der ältere Herr, seinen Hut noch in der einen Hand haltend und mit der anderen den Mantel ordnend, aus dem Fahrzeug stieg, stürzte ein Nationalsozialist, der den Mediziner irrtümlicherweise für Kurt Tucholsky hielt, auf ihn zu, ohrfeigte ihn heftig und beschimpfte ihn als „Kulturbolschewisten“ und „galizischen Juden“. Trotz des Aufruhrs konnte die Veranstaltung der „Literarischen Gesellschaft“ wie geplant durchgeführt werden. In Anwesenheit des geladenen Gastes. Um jedoch dessen Sicherheit und körperliche Unversehrtheit zu garantieren, erhielt Tucholsky nach Abschluß seiner Lesung Polizeischutz.
In der nächsten Ausgabe des „Nassauer Beobachters“ geiferte Falke unter der Überschrift „Narrenhaus Deutschland. Tucholsky in Wiesbaden“: „Da ist ein gewisser Kurt Tucholsky. In Wiesbaden tönte ihm vielhundertstimmig der Schrei „Schweinehund“ entgegen und nach. An allem, was in Deutschland war, ist und geschieht, hat er etwas auszusetzen. Er zieht alles in den Dreck, übergießt es mit Jauche und tritt darauf herum, sofern es nur eine Voraussetzung erfüllt: Deutsch zu sein. Und christlich zu sein.“
Nicht minder heftig fiel Falkes Kommentar zu Tucholskys Äußerung, Deutschland sei ein „Schweinekoben voll Gestank, Geilheit, Gemeinheit und Geldgier“ aus, ebenso zu der Tatsache, daß der Autor Polizeischutz in Anspruch genommen hatte: „Bezahlt aber wurde der Schutz von denen, die den Tucholsky einen Schweinehund nannten und dafür den Gummiknüppel über den Schädel gehauen bekamen. Narrenhaus oder nicht? Ein Nationalsozialist haute Tucholsky eine gigantische Ohrfeige herunter. Es war durchaus folgerichtig, daß dieser einzig vernünftig Handelnde sofort verhaftet und eingesperrt wurde. Was hat dieser Bursche Tucholsky denn überhaupt mit Geist zu tun? Der spuckt uns ins Gesicht und beschmeißt uns mit Dreck. Dafür hat es stets nur eine Antwort gegeben: Ohrfeigen.“ Und demnächst, so orakelte der wütende Falke, werde vermutlich auch noch „Herr Zuckmeyer“ nach Wiesbaden kommen... Ach Gott! Ich ließ die Zeitung sinken und lachte schallend. Dieser kulturlose Mensch hatte nicht nur keine Ahnung vom Werk Carl Zuckmayers, sondern war zudem auch noch außerstande, seinen Namen richtig zu buchstabieren.
Was für ein Armutszeugnis!

 

 

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