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Der Neroberg in Gefahr (Rhk 1905/298 MA, 29.4.)

Der Neroberg gehört zu den Sehenswürdigkeiten Wiesbadens. Zweierlei ist es, das diese Sehenswürdigkeit ausmacht: der Wald auf seiner Höhe und der Weinberg an seinem Hange. Das ist sein natürlicher Schmuck, bekanntlich der schönste, den es gibt, und in diesem Schmucke prangte er seit hunderten von Jahren. Ohne Wald und Wingert ist der Neroberg undenkbar. – Wenigstens in den Kreisen aller Besucher Wiesbadens. Noch mehr in denen, die unsere Kurstadt nie gesehen haben. Gehört aber hat jeder Gebildete in der ganzen Welt, der überhaupt je etwas von Wiesbaden gehört hat, auch vom Neroberg, von seinem Walde und von seinem Weinberge. – Der Schreiber dieses muß es wissen. Seit etwa fünfzehn Jahren hat er – amtlich und nichtamtlich – nicht weniger als 68 Artikel an Lexika, Fremdenführer, Auskunft-bureaus, Bäderzeitungen, Reklameschriften, Zeitschriften und Tageszeitungen ver-faßt, in denen vorzugsweise vom Neroberg die Rede war, von seinem Walde und von seinem Weinberge. In einer Menge von Fällen wurde von außen her ausdrücklich bemerkt und gefordert – man beachte „von außen her“ –: Schreiben Sie, bitte, auch speziell einiges vom Wald und Weinberg! Oder: Bitte, den „Neroberger“ nicht zu vergessen. Oder: Die Leser verlangen etwas über den Neroberger Weinberg zu wissen. Kürzlich: Verehrter Herr, kennen Sie die Sage, daß Kaiser Karl der Große (!) Reben auf dem Neroberge pflanzte? Wir bitten um ein Gedicht darüber. Usw. – Also von einem solchen Zauber ist der Neroberg und speziell sein Weinberg umsponnen. – Man kann sich denken, mit wieviel Vergnügen ich mich der Erhaltung und Verbreitung dieses Zaubers widmete. Das glaube ich dem Interesse der Kurstadt nicht minder als dem der rheinischen Poesie schuldig zu sein. Und was tut man nicht alles für beide! Wenn ich auch den Kaiser Karl dem Neroberg fernhielt – da ich sonst sämtliche gestrengen Herren Kollegen gegen mich gehabt hätte, die in diesem Falle meine Zwitterstellung als Historiker und Poet weidlich ausgeschlachtet haben würden – also, wenn ich diesen Herren zum Trost den Kaiser Karl ausmerzte: mit zwölffachem „m. W.“ schrieb ich über den Neroberg, was ich aus Sage und Geschichte wußte. Und 68 Artikel – der vorliegende ist der 69. – zu Lob und Preis des Nerobergs, seines Waldes und seines Weinbergs – das soll mal jemand nachmachen! Darf ich das sagen? – Bei all dem merkt der Leser wohl ein bißchen Galgenhumor aus meinen Zeilen heraus! Nicht wahr? Kein Wunder das! Warum? – Am 4. April 1905 hielten die Wiesbadener Stadtverordneten eine Sitzung ab. In dieser fand ein Sturmlauf vom Zentrum, von rechts und links auf den Magistratstisch statt. Mit einem Eifer, der alle Begriffe übersteigt, forderte man die Parzellierung, den Verkauf des Neroberg-Weinbergs, der die Stadt ganze 250.000 Mark gekostet habe und – nichts eintrage, sich nicht rentiere. – Fest wie ein Fels in der tosenden Brandung stand der Magistratsvertreter, Bürgermeister Heß. Von ihm, dem poesiefreudigen und wein-kundigen Sohne des Rheingaus, durfte man das wohl auch erwarten. Ruhig und sachlich wies er nach, daß 1. der Neroberg-Weinberg seinerzeit gerade deshalb von der Stadt angekauft worden sei, um die Verfügung über das Terrain zu behalten, namentlich zu verhüten, daß es bebaut werde, daß 2. der Neroberg-Weinberg von 20 Morgen für 250.000 Mark gar nicht zu teuer gekauft worden sei und daß bei etwas rationellerer Bewirtschaftung er sich wohl rentieren würde. – Mit etwas anderen Worten hieß das: 1. Verehrte Stadtverordnete, schlagt Euch doch nicht selbst auf den Mund; damals habt Ihr den Fiskus als Zerstörer hingestellt, und heute wollt Ihr selbst Zerstörer sein; 2. schämt Euch doch dieses krassen Utilitarismus, habt doch ein wenig, ein ganz klein wenig Sinn für Naturschönheit und Naturpoesie! – Ob das verstanden wurde? Einerlei: „wenn“ oder „obgleich“ – die Rufe wurden nur desto lauter: „Pläne vorlegen, Straßenflucht bestimmen, Bauplätze verkaufen !“ – Und der Magistratsvertreter wusch seine Hände in Unschuld. – Natürlich las der größte Teil meiner lieben und getreuen Mitbürger, darunter die meisten der Intelligenz Angehörigen, den Bericht über die denkwürdige Sitzung nicht. Als ich ein paar Tage darauf mit einigen Herren darüber sprach, was die von ihnen gewählten Vertreter ihrer Meinung [nach] mit dem Neroberg zu tun vorhätten, da waren die Herren rasch mit ihrer Ansicht bei der Hand. – Auf der einen Seite des gewesenen Neroberg-Weinbergs einen Obelisk errichten mit der Inschrift: „Starb im 100. Todesjahre Schillers, 1905“; auf der anderen Seite eine Tafel mit der Inschrift: „Seine Totengräber waren – folgen die Namen der Mitglieder des derzeitigen Finanzausschusses. – Also ganz so, wie kürzlich ein Stadtverordneter berichtete, daß man vorgehabt habe, im Südend denjenigen Magistratsmitgliedern ein „Denkmal“ zu errichten, die für die Verschmälerung der Nikolasstraße eingetreten wären. – Man bedenke: Nikolasstraße und Neroberg !!! Dort eine Bewegung, die Himmel und Hölle erschütterte, um – eine Straße breit zu halten ! Hier auch eine Bewegung ähnlicher Art, aber – um den Neroberg, dieses vielhundertjährige historische, kulturhistorische, poetische, einzigartige, herrliche weltberühmte Fleckchen Erde zu verbauen. Und in diesem einzig dastehenden Falle ganz erbärmlicher, lumpiger 250.000 Mark willen! – Es ist ja gar nicht zu glauben, daß die Wiesbadener Stadtverordneten den Kurinteressen und ihrer eigenen Absicht, die Schönheit Wiesbadens und seiner Umgebung zu erhalten, so ins Gesicht schlagen wollen ! – Wenn sie es denn bisher noch gar nicht wußten oder ahnten, dann mögen sie es nun hören: Wenn der Neroberg-Weinberg noch in irgend einer Weise mehr als bisher verkürzt oder verändert wird, dann hat sich Wiesbaden vor der ganzen Welt unsterblich blamiert. – Hier stehe ich, ich kann nicht anders ! – Aber ich hege immer noch die Hoffnung, daß die Mehrzahl der Stadtverordneten es schließlich nicht dahin kommen läßt, daß man dem 70. und den folgenden Artikeln über den Neroberg den Vermerk beifügen müßte: „Beseitigt durch den Beschluß der Stadtverordnetenversammlung vom ...“ Ich denke mir, daß bei ruhigerer Ueberlegung die Einsicht kommt, daß man in allzu großer Sorge um die momentane, gewiß starke Belastung des Stadtsäckels momentan geirrt hat. Cuiusvis hominis est errare, nullius, nisi insipientis, in errore, perseverare: – vielleicht macht dieser Spruch Eindruck, weil er uralt ist. – Der Neroberg-Weinberg soll, soweit er städtisch ist, genau so erhalten werden, wie er ist. Das äußerste Zugeständnis sollte sein, daß eine unbebaute Fahr-straße, von oben und unten möglichst unkenntlich (Böschungen mit Spalieren?) hindurchgeführt wird. Der schnöde Utilitarismus darf hier nicht maßgebend sein. Die Erhaltung des herrlichen Fleckchens, der Freude und des Neides von Millionen, ist auch ein Kapital, das seine ideellen und dadurch indirekt auch materiellen Zinsen trägt. Nicht als Nörgler, nicht als Agitator schrieb ich diese mahnenden Zeilen, nein, als Lokalhistoriker, als Vertreter der Kurinteressen und als rheinischer Poet. Auch nicht in irgendwessen Auftrag oder gegen irgend eine Person: keinem zuliebe und keinem zuleide. Aber ich bin sicher, tausende meiner Mitbürger und hunderttausende von Kurfremden hinter mir zu haben, ihr unbeauftragter Fürsprecher zu sein.
Stadtverordnete von Wiesbaden ! Auch Ihr alle, Mitbürger im weiteren Sinne ! Erhaltet den Neroberg-Weinberg ! Mit dieser dringlich wiederholten Mahnung schließe ich.

 

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